Die Fertigung ist flexibler und schneller geworden
Die Entwicklung des Produkts mit komplexer Elektronik und aufwendiger Montage hatte sich um drei Monate verzögert. Die Fertigung sollte möglichst viel verlorene Zeit wieder aufholen. Wie flexibel kann eine Fertigungsorganisation damit umgehen? „Das ist eine extreme Herausforderung, aber machbar“, sagt der Fertigungsdienstleister Ihlemann. Das Unternehmen hat seine Fertigungsorganisation komplett neu organisiert, um solchen Anforderungen besser gerecht werden zu können.
Schnellere Innovationszyklen, immer weniger Zeit für Produktentwicklung und Design sowie häufige Produktänderungen sind zum Normalzustand geworden. Weniger Zeit für Produktentwicklung und Test führen zu steigenden Fehlerraten. In der Fertigung mit großen Produktionslosen und langen Durchlaufzeiten werden viele solcher Fehler erst in den Funktionstests fertiger Baugruppen oder Geräte erkannt, oft erst mehrere Wochen nach dem Fertigungsbeginn. Dann muss ein ganzes Produktionslos zeit- und kostenaufwendig nachbearbeitet werden. Qualitätsrückmeldungen kommen zu spät, weil die Reaktionsgeschwindigkeit bisheriger Prozesse zu gering ist.
„Wir haben die Krise 2009 dafür genutzt, um unsere Produktionsweise komplett zu verändern“, so Bernd Richter, Vorstand bei der Ihlemann AG, einem Dienstleister für Elektronikfertigung. Dieser neue Ansatz hilft, Herausforderungen wie die dreimonatige Verzögerung bei der Produktentwicklung besser in den Griff zu bekommen. Ihlemann setzt auf Lean-Management-Prinzipien. Die Fertigung und schrittweise das gesamte Unternehmen begreifen sich als lernende Organisation. Grundlagen sind die Neuorganisation der Fertigung nach dem Fluss-Prinzip, tägliche Verbesserungsroutinen durch die Mitarbeiter (Verbesserungs-KATA) und eine kontinuierliche Unterstützung durch Coaching-Routinen (Coaching-KATA).
Neuorganisation der Fertigung
Wichtigster Ansatzpunkt der Prozessverbesserungen ist die Organisation eines möglichst reibungslosen Produktionsflusses. Die alte Fertigung war geprägt durch die abschnittsweise losorientierte Produktion mit zum Teil mehrtägigen Unterbrechungen und Verzögerungen. Arbeitsschritte wie bestücken, löten, montieren, testen, verpacken usw. wurden für alle Geräte im Block abgearbeitet mit mehr oder wenigen großen zeitlichen Brüchen zwischen den Schritten. Der Steuerungsaufwand war sehr hoch, weil jeder Arbeitsschritt einzeln angestoßen und koordiniert werden musste. Häufige Auftrags- und Produktänderungen erschwerten die Planbarkeit und Ressourcensteuerung. Es wurde immer schwieriger, den Überblick zu behalten.
Im neuen Fertigungsablauf erfolgen jetzt alle Tätigkeiten für jede einzelne Elektronikplatine direkt nacheinander in einem verknüpften Prozess. Dafür durchläuft auch ein komplexes Produkt in einer Fertigungszelle (U-Zelle) alle für den Produktionsprozess benötigten Arbeitsschritte direkt nacheinander. Die Platine wird bestückt, getestet und noch in der Fertigungszelle auf Fehler geprüft und anschließend zur Auslieferung bereitgestellt. Sämtliche Aufgaben werden komplett vom gleichen Team durchgeführt. Tritt jetzt in der Funktionsprüfung ein Fehler auf, sind seit Produktionsbeginn erst wenige Minuten vergangen. Der Fehler kann sofort untersucht und korrigiert werden, ohne dass ein komplettes Los mit Hunderten fehlerhafter Geräte auf Halde produziert wird.
Verkürzter Produktanlauf
„Um die dreimonatige Verzögerung aus der Produktentwicklung wenigstens teilweise ausgleichen zu können, mussten wir die Anlaufphase von der Übergabe des entwickelten Produkts bis zur Serienfertigung drastisch verkürzen“, beschreibt Richter die Anforderung an die Fertigungsorganisation. Die aktuelle Herausforderung hieß, die sonst mehrwöchige Anlaufphase auf wenige Tage zu reduzieren. Der Fertigungsprozess begann, ohne dass die Abläufe optimiert waren. Die zeitliche Organisation der einzelnen Arbeitsschritte passt noch nicht, die Greifwege für die Mitarbeiter waren noch zu aufwendig und es fehlte an Vorrichtungen für die Montage.
Aus Sicht der Ihlemann AG macht besonders die Fähigkeit zur schnellen Lösung solcher Herausforderungen das Wesen der neuen Organisation aus. „Investitionen in moderne und leistungsfähige Produktionsanlagen sind für uns nach wie vor wichtig. Sie sind aber nicht der entscheidende Schlüssel zum Erfolg. Wichtiger ist es, wie die Mitarbeiter selbst die einzelnen Prozesse jeden Tag mehrmals so verbessern, dass wir mit den heutigen schnelllebigen und unsicheren Verhältnissen produktiv umgehen können“, so Bernd Richter. Die neue Fertigungsorganisation hat sich vom traditionellen Vorschlagswesen für Verbesserungen oder punktuellen Verbesserungsworkshops verabschiedet. Der neue Ansatz folgt einem wissenschaftlich Vorgehen und setzt auf sehr kleine und sofort umsetzbare Verbesserungsschritte, die systematisch und mit festen Gesprächs- und Handlungsroutinen angegangen werden (Verbesserungs-KATA). Anstelle weniger großer Verbesserungsprojekte mit wenigen Akteuren werden jetzt viele kleine Verbesserungsschritte mit möglichst vielen Beteiligten durchgeführt.
Um den Produktanlauf um mehrere Wochen verkürzen zu können, mussten in kurzer Zeit viele Veränderungen umgesetzt werden. Ein Teil der Vorbereitungszeit wurde dadurch eingespart, dass Arbeiten, die bisher nacheinander erfolgten, parallel abgearbeitet wurden. Ein wesentlicher und zeitaufwendiger Aspekt des Produktanlaufs besteht in der effektiven Organisation der einzelnen Arbeitsschritte für das neue Produkt. So müssen nicht ergonomische Greifwege und aufwendige Handarbeiten in der Montage durch Vorrichtungen verbessert werden. Die Mitarbeiter in der Fertigung bei Ihlemann hatten bereits zahlreiche Erfahrungen mit der Entwicklung von Hilfsmitteln und Vorrichtungen, um Arbeitsprozesse einfacher und effizienter zu machen. Ein Beispiel ist das Montieren einer Feder im zu fertigenden Gerät. Ohne Hilfsmittel ist dieser Arbeitsschritt zu langwierig und zu fehleranfällig. Dazu wurde der problematische Montageschritt analysiert und eine erste Idee für eine Vorrichtung entwickelt. Die Idee wurde von den Mitarbeitern gemeinsam geprüft und wieder verworfen. Es folgte eine neue Idee, die bereits besser passte. Der Vorrichtungsbau bei Ihlemann lieferte ein erstes Muster. Das Hilfsmittel wurde überprüft, verbessert, nochmals überprüft und innerhalb eines Tages in vielen kleinen Verbesserungszyklen soweit entwickelt, dass es einsetzbar war. Der problematische Montageschritt war verbessert und das Montieren der Feder ergonomisch und effizient geworden.
Schneller und flexibler
Durch die Neuorganisation der Fertigung hatte Ihlemann bereits viele Erfahrungen gesammelt, wie sich Rüstzeiten verkürzen und Produktanpassungen möglichst schnell in die Fertigung überführen lassen. So wurden auch die anderen Anforderungen des verkürzten Produktanlaufs in sehr kurzer Zeit angegangen.
Die Erfahrungen aus der ersten Schicht wurden sofort an die nachfolgende übertragen. Dazu wurden die Abläufe dokumentiert, Fotos und Bebilderungen erstellt und auch einzelne Arbeitsschritte per Video aufgezeichnet. Über den persönlichen Erfahrungsaustausch und mit den Hinweisen auf noch bestehende Engpässe wurde der Verbesserungsprozess von den Mitarbeitern der nächsten Schicht fortgesetzt.
Da mit der neuen Fertigungsorganisation jetzt alle Arbeitsschritte für jedes einzelne Gerät direkt nacheinander in einem verknüpften Prozess erfolgen, hat sich auch die Durchlaufzeit stark verkürzt. Bis zur Auslieferung vergehen jetzt keine Wochen mehr, sondern die ersten Geräte stehen bereits nach wenigen Stunden zum Versand bereit. „Durch die mehrjährigen Erfahrungen aus den Verbesserungsprozessen sind wir heute in der Lage, auf Verzögerungen in der Produktentwicklung und auch auf andere Anforderungen sehr flexibel zu reagieren. Die Prozesse sind effizienter und schneller geworden und wir erreichen dabei sogar einen höheren Qualitätsstandard“, fasst Bernd Richter die Erfahrungen zusammen. Er berichtet, dass sich sowohl kleine als auch große Losgrößen flexibel umsetzen lassen und die Stückzahlen jetzt viel einfacher skalierbar sind.